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Dilemma

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Zuhörer-Typ

Schon seit einer Ewig­keit zäh­len Anja und ich uns zu den Zuhö­rer-Typen. Viel­leicht wisst ihr, was damit gemeint ist, wenn nicht, dann ver­su­che ich es mal zu erzäh­len.

Schon in mei­nem “alten Beruf” als Ver­mö­gens­be­ra­ter war es meist so, dass mei­ne Kund­schaft mir ihre gesam­te Lebens­ge­schich­te mit samt ihrer gro­ßen und klei­nen Pro­ble­me erzähl­te. Viel­leicht, damit ich ihre Situa­ti­on bes­ser ein­schät­zen konn­te, viel­leicht aber auch, weil ihnen sonst kein Mensch zuhör­te.

Wenn wir auf Wan­der­schaft sind, dann tref­fen wir auf vie­le Men­schen. Man bleibt oft kurz ste­hen und unter­hält sich über den Weg, den Hund oder das Wet­ter. Auch hier ent­wi­ckelt sich nach kur­zer Zeit die­se Situa­ti­on. Wir hören zu und bekom­men erzählt.

Ver­mut­lich ste­hen auf unse­rer bei­der Stirn in Leucht­buch­sta­ben die Wor­te: “Hier kannst du spre­chen, hier hört man dir zu.” Ich kann aber mit Sicher­heit sagen, dass ich die­se Leucht­buch­sta­ben noch nie im Spie­gel gese­hen habe. Viel­leicht ist es aber auch ein Geruch, den wir nicht bewusst wahr­neh­men, so wie Hun­de man­ches rie­chen, was wir nicht erken­nen. Ich weiß es nicht.

Oft müs­sen wir sol­che Gesprä­che unter­wegs bedau­er­li­cher­wei­se “hart” abbre­chen, weil es zu kalt wird, zu stark reg­net oder ein­fach die Zeit fehlt. Doch es ergibt sich meist eine neue Situa­ti­on.

So geschieht es mir auch auf mei­nen Lauf­run­den. Seit Vor­ges­tern schläft unter einer der Brü­cken, unter denen ich durch­lau­fe, ein jun­ger Mann. Ich hal­te immer kurz an und fra­ge ihn nach sei­nem Befin­den mit: “Hey jun­ger Mann — alles soweit OK?” und er lugt dann unter sei­ner Stepp­de­cke her­vor, hebt die Hand und spricht kräf­tig und laut — “JA”. Heu­te frag­te ich ihn noch nach sei­nem Namen und nann­te ihm mei­nen. Soll­te er noch eine Wei­le dort “woh­nen”, dann wer­den wir sicher bald reden.

Vie­le Kilo­me­ter wei­ter kommt mir auch fast täg­lich eine alte Frau ent­ge­gen. Sie geht dort schon seit mei­ner gemein­sa­men Lauf­zeit mit Stef­fen. Heu­te stan­den wir uns wie­der ein­mal gegen­über, sie auf der einen Sei­te der Tras­se mit ihrer Mund-Nasen-Bede­ckung und ich auf der ande­ren Sei­te der Tras­se mit mei­nem Buff über Nase und Mund. Das übli­che “Dran­blei­ben-Gespräch” und “Es-ist-gut-das-zu-tun-Gespräch” und heu­te erzähl­te sie mir von der schreck­lichs­ten Situa­ti­on, die einer Mut­ter pas­sie­ren kann und die ihr pas­siert war. Sie erzähl­te es mir — mor­gens kurz nach­dem die Son­ne auf­ge­gan­gen war irgend­wo auf der Bal­kan­tras­se. Das sind nur Sekun­den, manch­mal weni­ge Minu­ten.

Ich hör­te ihr zu, ich der Zuhö­rer-Typ.

Und ich neh­me die­se vie­len Geschich­ten seit Jah­ren ger­ne mit. Die guten und die schlech­ten.

Tag 3222 im Run Streak mit 70.694 km