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Von weinenden Kühen und so

Guten Mor­gen. Heu­te lief ich 22 km an Tag 3172 in Fol­ge mit mitt­ler­wei­le 69594 km in die­ser Serie

Hier eine Hil­fe, um viel­leicht zu ver­ste­hen, war­um das Gan­ze viel grö­ßer ist, als nur eine Moment­auf­nah­me, war­um es meist gut wird und nicht schlecht, war­um wei­ter­ma­chen allei­ne schon Sinn macht. Die­se Fotos sind von heu­te und ohne jeden Fil­ter und unbe­ar­bei­tet

Eine Geschich­te…

Nach­dem wir 1983 Land für unser Klos­ter gekauft hat­ten, waren wir völ­lig plei­te und steck­ten bis zum Hals in Schul­den. Auf dem Grund­stück selbst stand kein ein­zi­ges Haus, nicht ein­mal ein Schup­pen. In jenen ers­ten Wochen schlie­fen wir auf alten Türen, die wir bil­lig auf dem Schutt­ab­la­de­platz erstan­den hat­ten.

Mit unter­ge­leg­ten Back­stei­nen wur­den die­se Türen zu Bet­ten, wobei wir als Mön­che eines Wald­klos­ters natür­lich auf Matrat­zen ver­zich­te­ten.

Der Abt schlief auf der Tür, die am bes­ten erhal­ten war und über eine ange­nehm glat­te Ober­flä­che ver­füg­te. Mei­ne hin­ge­gen war gerif­felt und wies über­dies noch ein beacht­li­ches Loch in der Mit­te auf, näm­lich an jener Stel­le, wo einst der Tür­knauf geses­sen hat­te. Ich war zwar froh, dass der Knauf über­haupt ent­fernt wor­den war, aber nun befand sich mit­ten auf mei­ner Schlaf­un­ter­la­ge ein Loch. Ich mach­te Wit­ze dar­über, dass ich nicht ein­mal mehr zum Aus­tre­ten wür­de auf­ste­hen müs­sen aber zum Lachen war mir eigent­lich nicht zumu­te, denn kal­ter Wind pfiff nachts durch die­ses Loch. In jener Zeit schlief ich sehr schlecht.

Wir waren arme Mön­che, aber wir brauch­ten ein Dach über dem Kopf. Bau­ar­bei­ter konn­ten wir uns nicht leis­ten — schon die Kos­ten für das Mate­ri­al waren ja kaum auf­zu­brin­gen! Also muss­te ich das Bau­en von Grund auf erler­nen: wie man ein Fun­da­ment legt, beto­niert, mau­ert, ein Dach zim­mert und sani­tä­re Ein­rich­tun­gen ein­baut, eben alles, was zum Bau gehört.

Mein bür­ger­li­ches Leben als Phy­si­ker und Leh­rer hat­te mich nicht dar­auf vor­be­rei­tet, mit den Hän­den zu arbei­ten. Doch im Ver­lauf eini­ger weni­ger Jah­re wur­de ich zu einem recht geschick­ten Bau­ar­bei­ter und nann­te mein Team bald BBC (Bud­dhis­ti­sche Bau Com­pa­ny). Der Anfang war aller­dings außer­or­dent­lich müh­sam.

Dem Außen­ste­hen­den mag Mau­rer­ar­beit leicht erschei­nen: man pappt etwas Mör­tel auf den Stein, setzt ihn an sei­ne Stel­le und klopft ihn ein biss­chen fest. Wenn ich aber leicht auf eine Ecke schlug, um eine ebe­ne Ober­flä­che zu erhal­ten, stieg eine ande­re Ecke nach oben. Kaum hat­te ich die­se auch fest­ge­klopft, tanz­te auf ein­mal der gan­ze Stein aus der Rei­he. Behut­sam brach­te ich ihn also wie­der in die rich­ti­ge Posi­ti­on, um gleich danach fest­zu­stel­len, dass die ers­te Ecke schon wie­der hoch­rag­te. Es war zum Ver­zwei­feln. Wenn sie mir nicht glau­ben, ver­su­chen Sie’s doch selbst ein­mal!

Als Mönch ver­füg­te ich über so viel Geduld und Zeit, wie ich brauch­te. Ich gab mir also gro­ße Mühe, jeden Back­stein per­fekt ein­zu­pas­sen, ganz gleich, wie viel Zeit ich dafür benö­tig­te. Und irgend­wann war die ers­te Back­stein­mau­er mei­nes Lebens fer­tig gestellt. Vol­ler Stolz trat ich einen Schritt zurück, um mein Werk zu begut­ach­ten. Erst da fiel mir auf — das durf­te doch nicht wahr sein! — dass zwei Back­stei­ne das Regel­maß stör­ten. Alle ande­ren Stei­ne waren ordent­lich zusam­men­ge­setzt wor­den, aber die­se zwei saßen ganz schief in der Mau­er. Ein grau­en­vol­ler Anblick! Zwei Stei­ne hat­ten mir die gan­ze Mau­er ver­saut.

Der Zement­mör­tel war inzwi­schen fest gewor­den. Also konn­te ich die­se Stei­ne nicht ein­fach her­aus­zie­hen und erset­zen. Ich ging zu mei­nem Abt und frag­te, ob ich die Mau­er nie­der­rei­ßen oder in die Luft jagen und neu anfan­gen dürf­te. “Nein”, erwi­der­te der Abt, “die Mau­er bleibt so ste­hen, wie sie ist.”

Als ich die ers­ten Besu­cher durch unser neu­es Klos­ter führ­te, ver­mied ich es stets, mit ihnen an die­ser Mau­er vor­bei zu gehen. Ich hass­te den Gedan­ken, dass jemand die­ses Stüm­per­werk sehen könn­te. Etwa drei oder vier Mona­te spä­ter wan­der­te ich mit einem Gast über unser Ter­rain. Plötz­lich fiel sein Blick auf mei­ne Schand­mau­er.

“Das ist aber eine schö­ne Mau­er”, bemerk­te er wie neben­bei. “Sir”, erwi­der­te ich über­rascht, “haben Sie etwa Ihre Bril­le im Auto ver­ges­sen? Oder einen Seh­feh­ler? Fal­len Ihnen denn die zwei schief ein­ge­setz­ten Back­stei­ne nicht auf, die die gan­ze Mau­er ver­schan­deln?”

Sei­ne nächs­ten Wor­te ver­än­der­ten mei­ne Ein­stel­lung zur Mau­er, zu mir selbst und zu vie­len Aspek­ten des Lebens.

“Ja”, sag­te er. “Ich sehe die bei­den man­gel­haft aus­ge­rich­te­ten Back­stei­ne. Aber ich sehe auch 998 gut ein­ge­setz­te Stei­ne!”

Ich war über­wäl­tigt. Zum ers­ten mal seit drei Mona­ten sah ich neben den bei­den man­gel­haf­ten Stei­nen auch ande­re Back­stei­ne. Ober­halb und unter­halb der schie­fen Stei­ne, zu ihrer Lin­ken und zu ihrer Rech­ten befan­den sich per­fek­te Stei­ne, ganz gera­de ein­ge­setzt. Ihre Zahl über­wog die der schlech­ten Stei­ne bei wei­tem.

Bis dahin hat­te ich mich aus­schließ­lich auf mei­ne bei­den Feh­ler kon­zen­triert und war allem ande­ren gegen­über blind gewe­sen. Des­halb konn­te ich den Anblick der Mau­er nicht ertra­gen und woll­te ihn ande­ren Men­schen auch nicht zumu­ten. Des­halb hat­te ich das Werk ver­nich­ten wol­len. Doch als ich jetzt die ordent­li­chen Back­stei­ne betrach­te­te, schien die Mau­er über­haupt nicht mehr grau­en­voll aus­zu­se­hen. Der Besu­cher hat­te schon Recht: Es war wirk­lich eine sehr schö­ne Mau­er. Jetzt, zwan­zig Jah­re spä­ter, steht sie immer noch, und inzwi­schen habe ich längst ver­ges­sen, an wel­cher Stel­le die man­gel­haf­ten Back­stei­ne ste­cken. Ich kann sie mitt­ler­wei­le tat­säch­lich nicht mehr sehen.

Quel­le: “Die Kuh, die wein­te” von Ajahn Brahm

“They just could­n’t belie­ve that someone would do all that run­ning for no par­ti­cu­lar reason.” For­rest Gump