Auf meinem heutigen Morgenlauf, Nummer 3178 in Folge, verging meine Sicht auf die Zeit relativ ruhig und gleichmäßig. Durch Zufall verging sie exakt so schnell oder langsam, dass ich genau zu dem Zeitpunkt an einem bestimmten Punkt auf der Erdoberfläche zu stehen kam, an dem auch die Sonne ihre auf Grund der Entfernung und der damit verbundenen Lichtgeschwindigkeit um acht Minuten verzögerten Strahlen genau auf den Punkt der Erde abstrahlte, an dem ich nun stand
Und das bekam ich zu sehen
Dann lief ich weiter. Die Strahlen der Sonne erreichten mich flackernd durch den seitlichen Wald. An — aus, an — aus, an — aus …
Ich schaute mir das Farbenspiel weiterhin an und hörte derweil dem Sprecher meines Hörbuches zu. Das Hörbuch “Eine kurze Geschichte der Zeit”. Hinter mir tauchte ein gelbes und hüpfendes Etwas auf und kam immer näher. Im Augenwinkel vermischte es sich mit den orangen Sonnenstrahlen. Es war ein anderer Läufer. Ich vernahm seine Schritte
TACK TACK TACK TACK TACK
Er kam immer näher und überholte mich schließlich
TACK TACK TACK TACK TACK
Sein Blick ging starr geradeaus und wurde nur vom sich wiederholenden Kontrollblick seiner Zeit auf seiner Armbanduhr unterbrochen. Nach einigen Minuten war er so weit voraus, dass er immer kleiner wurde, wieder nur noch als winziges gelbes Etwas vorne am Horizont hüpfte, bis er sich scheinbar irgendwann in Nichts auflöste
Seine relative Zeit ist ungleich meiner relativen Zeit
“They just couldn’t believe that someone would do all that running for no particular reason.” Forrest Gump
In meinem letzten Beruf kam es immer darauf an, den Menschen aufzuzeigen, dass es kurz‑, mittel- und langfristige Ziele im Leben gibt und man dementsprechend auch für diese planen kann und sollte
Am 02. Januar 2012 startete ich anfangs recht ziellos meinen ersten Run-Streak. Obwohl, ganz so ziellos doch nicht, denn ich trat schon weit vor dem 02. Januar 2012, nämlich am 15. März 2008, dem Internetforum für Streakrunner auf www.streakrunner.de bei, war aber in den Jahren vorher nicht wirklich überzeugt davon, ob tägliches Laufen wirklich meine Sache sei. Also eine nicht ganz so kurze Vorbereitungszeit
Na ja und so fing dann eben bekanntermaßen alles am 02. Januar 2012 mit Tag eins an
Ziel-Dauer der Serie: Unbekannt
Ziel-Kilometer der Serie: Unbekannt
Eigentlich wie das Leben, wenn ich mir das überlege
Mit der Zeit flammten immer wieder kleine Zwischenziele auf, welche es in dieser ersten Serie zu erreichen galt. Die ersten einhundert Tage am Stück, die ersten zweihundert Tage am Stück, die ersten dreihundert Tage am Stück und dann kam das erste volle Jahr ohne einen Tag Pause. Leute, ich kann euch sagen, das war etwas ganz Besonderes für mich, aber bei den Täglichläufern war das noch nichts wirklich Besonderes. Erst mit dem Jubiläum zum Tag 400 in Folge schrieb der liebe Kurt ins Forum
Dann lief ich weiter und es kamen viele kleine Jubiläen, denn die Täglichläufer*innen wissen, wie wichtig diese kleinen Etappen für die große Serie sind. Unterwegs erlebte ich viele Dinge, lernte viele Menschen kennen, lief auf vielen Strecken hier in der Umgebung und erreichte am 19. September 2016 nach 1.723 Tagen laufen und erleben die für mich damals unvorstellbare Kilometerzahl von 40.076,6 km, welche genau dem Erdumfang, an der weitesten Stelle des Äquators gemessen, entsprach. Ich vermute, dass man sich das Glücksgefühl nach solch einer langen Strecke und den vielen Kilometern nicht so recht vorstellen kann, aber es war da
Was ich nach dem Zieldurchlauf bei einem Interview des Westdeutschen Rundfunks auf die Frage „Ist denn jetzt Schluss mit der Lauferei?“ sagte, denn ein Zieleinlauf wäre es nur gewesen, wenn ich meine Serie danach beendet hätte, waren die Worte: „Nein, ich lauf ja morgen wieder.“
Und so war es auch. Ich lief weiter täglich und bis heute. Ich traf unterwegs andere Menschen, lernte neue Menschen kennen, erlebte andere Dinge, machte Erfahrungen, gute und schlechte, ich schrieb ein Buch darüber, und ich lief. Jetzt ist in vermutlich sechzehn Tagen, wenn alles so weiter läuft, wieder eine große Etappe erreicht, die 70.000 Kilometer in der Serie. Und weil es scheinbar schon so normal ist, für mich und auch für andere Menschen, dass ich jeden Tag meine Strecke laufe, und weil wir auch gerade Corona haben, und ich auf Grund meiner Lungenerkrankung lieber alleine laufe, wird das wohl wieder eher still mitlaufen. Doch dann sind es nur noch 10.076,6 Kilometer bis zur zweiten Weltumrundung
Also ein eher kurzfristiges Ziel
Es wird für mich wieder spannend
Und unterwegs schaue ich jeden Morgen in die Unendlichkeit
Heute war Tag 3175 und der Kilometerstand 69.660
“They just couldn’t believe that someone would do all that running for no particular reason.” Forrest Gump
Guten Morgen. Heute lief ich 22 km an Tag 3172 in Folge mit mittlerweile 69594 km in dieser Serie
Hier eine Hilfe, um vielleicht zu verstehen, warum das Ganze viel größer ist, als nur eine Momentaufnahme, warum es meist gut wird und nicht schlecht, warum weitermachen alleine schon Sinn macht. Diese Fotos sind von heute und ohne jeden Filter und unbearbeitet
Eine Geschichte…
Nachdem wir 1983 Land für unser Kloster gekauft hatten, waren wir völlig pleite und steckten bis zum Hals in Schulden. Auf dem Grundstück selbst stand kein einziges Haus, nicht einmal ein Schuppen. In jenen ersten Wochen schliefen wir auf alten Türen, die wir billig auf dem Schuttabladeplatz erstanden hatten.
Mit untergelegten Backsteinen wurden diese Türen zu Betten, wobei wir als Mönche eines Waldklosters natürlich auf Matratzen verzichteten.
Der Abt schlief auf der Tür, die am besten erhalten war und über eine angenehm glatte Oberfläche verfügte. Meine hingegen war geriffelt und wies überdies noch ein beachtliches Loch in der Mitte auf, nämlich an jener Stelle, wo einst der Türknauf gesessen hatte. Ich war zwar froh, dass der Knauf überhaupt entfernt worden war, aber nun befand sich mitten auf meiner Schlafunterlage ein Loch. Ich machte Witze darüber, dass ich nicht einmal mehr zum Austreten würde aufstehen müssen aber zum Lachen war mir eigentlich nicht zumute, denn kalter Wind pfiff nachts durch dieses Loch. In jener Zeit schlief ich sehr schlecht.
Wir waren arme Mönche, aber wir brauchten ein Dach über dem Kopf. Bauarbeiter konnten wir uns nicht leisten — schon die Kosten für das Material waren ja kaum aufzubringen! Also musste ich das Bauen von Grund auf erlernen: wie man ein Fundament legt, betoniert, mauert, ein Dach zimmert und sanitäre Einrichtungen einbaut, eben alles, was zum Bau gehört.
Mein bürgerliches Leben als Physiker und Lehrer hatte mich nicht darauf vorbereitet, mit den Händen zu arbeiten. Doch im Verlauf einiger weniger Jahre wurde ich zu einem recht geschickten Bauarbeiter und nannte mein Team bald BBC (Buddhistische Bau Company). Der Anfang war allerdings außerordentlich mühsam.
Dem Außenstehenden mag Maurerarbeit leicht erscheinen: man pappt etwas Mörtel auf den Stein, setzt ihn an seine Stelle und klopft ihn ein bisschen fest. Wenn ich aber leicht auf eine Ecke schlug, um eine ebene Oberfläche zu erhalten, stieg eine andere Ecke nach oben. Kaum hatte ich diese auch festgeklopft, tanzte auf einmal der ganze Stein aus der Reihe. Behutsam brachte ich ihn also wieder in die richtige Position, um gleich danach festzustellen, dass die erste Ecke schon wieder hochragte. Es war zum Verzweifeln. Wenn sie mir nicht glauben, versuchen Sie’s doch selbst einmal!
Als Mönch verfügte ich über so viel Geduld und Zeit, wie ich brauchte. Ich gab mir also große Mühe, jeden Backstein perfekt einzupassen, ganz gleich, wie viel Zeit ich dafür benötigte. Und irgendwann war die erste Backsteinmauer meines Lebens fertig gestellt. Voller Stolz trat ich einen Schritt zurück, um mein Werk zu begutachten. Erst da fiel mir auf — das durfte doch nicht wahr sein! — dass zwei Backsteine das Regelmaß störten. Alle anderen Steine waren ordentlich zusammengesetzt worden, aber diese zwei saßen ganz schief in der Mauer. Ein grauenvoller Anblick! Zwei Steine hatten mir die ganze Mauer versaut.
Der Zementmörtel war inzwischen fest geworden. Also konnte ich diese Steine nicht einfach herausziehen und ersetzen. Ich ging zu meinem Abt und fragte, ob ich die Mauer niederreißen oder in die Luft jagen und neu anfangen dürfte. “Nein”, erwiderte der Abt, “die Mauer bleibt so stehen, wie sie ist.”
Als ich die ersten Besucher durch unser neues Kloster führte, vermied ich es stets, mit ihnen an dieser Mauer vorbei zu gehen. Ich hasste den Gedanken, dass jemand dieses Stümperwerk sehen könnte. Etwa drei oder vier Monate später wanderte ich mit einem Gast über unser Terrain. Plötzlich fiel sein Blick auf meine Schandmauer.
“Das ist aber eine schöne Mauer”, bemerkte er wie nebenbei. “Sir”, erwiderte ich überrascht, “haben Sie etwa Ihre Brille im Auto vergessen? Oder einen Sehfehler? Fallen Ihnen denn die zwei schief eingesetzten Backsteine nicht auf, die die ganze Mauer verschandeln?”
Seine nächsten Worte veränderten meine Einstellung zur Mauer, zu mir selbst und zu vielen Aspekten des Lebens.
“Ja”, sagte er. “Ich sehe die beiden mangelhaft ausgerichteten Backsteine. Aber ich sehe auch 998 gut eingesetzte Steine!”
Ich war überwältigt. Zum ersten mal seit drei Monaten sah ich neben den beiden mangelhaften Steinen auch andere Backsteine. Oberhalb und unterhalb der schiefen Steine, zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten befanden sich perfekte Steine, ganz gerade eingesetzt. Ihre Zahl überwog die der schlechten Steine bei weitem.
Bis dahin hatte ich mich ausschließlich auf meine beiden Fehler konzentriert und war allem anderen gegenüber blind gewesen. Deshalb konnte ich den Anblick der Mauer nicht ertragen und wollte ihn anderen Menschen auch nicht zumuten. Deshalb hatte ich das Werk vernichten wollen. Doch als ich jetzt die ordentlichen Backsteine betrachtete, schien die Mauer überhaupt nicht mehr grauenvoll auszusehen. Der Besucher hatte schon Recht: Es war wirklich eine sehr schöne Mauer. Jetzt, zwanzig Jahre später, steht sie immer noch, und inzwischen habe ich längst vergessen, an welcher Stelle die mangelhaften Backsteine stecken. Ich kann sie mittlerweile tatsächlich nicht mehr sehen.
Quelle: “Die Kuh, die weinte” von Ajahn Brahm
“They just couldn’t believe that someone would do all that running for no particular reason.” Forrest Gump
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