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Prozess, kein Fingerschnipp

Ich lief ges­tern um 6:15 los um Bul­bul an der Stadt­kir­che abzu­ho­len und dann mit ihm bis nach Len­nep zum Bahn­hof und zurück

Ab Rat­ten­burg bis Treck­na­se beglei­te­te uns Mar­tin. Er hat­te ges­tern Bul­bul ken­nen­ge­lernt und war posi­tiv über­rascht, wie gut er schon unse­re Spra­che beherrscht

Als Mar­tin uns ver­las­sen hat­te, lagen noch gute vier­zehn Kilo­me­ter vor uns und dabei kamen wir irgend­wie wie­der auf die­ses The­ma, wie die­ser Pro­zess des Hier­blei­bens ver­nünf­tig funk­tio­niert und wel­che Erfah­run­gen wir im nun ver­gan­ge­nen Jahr gemacht haben

Als der wich­tigs­te Zugang zum gemein­schaft­li­chen Leben in Deutsch­land zeig­te sich das Erler­nen der deut­schen Spra­che. Hier­bei gab es natür­lich unter­schied­lichs­te Ergeb­nis­se. Manch einer leg­te sofort los bei der VHS einen von dem kar­gen Sozi­al­geld selbst mit­zu­fi­nan­zie­ren­den Sprach­kurs zu besu­chen, oder in einem der kos­ten­lo­sen Sprach­kur­se der Flücht­lings­in­itia­ti­ve “Will­kom­men in Wer­mels­kir­chen”. Ande­re mach­ten erst mal nichts und began­nen spä­ter, als sie spür­ten, dass es mit der Spra­che bes­ser fluppt. Und man­che waren und sind noch Analpha­be­ten, die sich in Alpha­be­ti­sie­rungs­kur­sen der Initia­ti­ve her­um­quä­len. Eini­ge weni­ge gehen nicht oder nicht mehr zum Sprach­un­ter­richt und mer­ken mehr und mehr, dass ihnen die ande­ren “davon­zie­hen”. \\Da müs­sen wir noch irgend­wie das Moti­va­ti­ons­loch schlie­ßen\\. Posi­tiv ist mir auf­ge­fal­len, dass die Men­schen aus den unter­schied­lichs­ten Län­dern hier mitt­ler­wei­le in Deutsch mit­ein­an­der spre­chen oder es zumin­dest ver­su­chen. Ganz wich­tig ist und bleibt neben den Sprach­schu­len aller­dings der Kon­takt zu “Ein­hei­mi­schen”. Das Erfolgs­re­zept: Sprach­schu­le und viel Kon­takt zu “Ein­hei­mi­schen”

Die nächs­te Sache war eine Woh­nung außer­halb der städ­ti­schen Häu­ser zu fin­den. In Wer­mels­kir­chen wird dies, anders als in den meis­ten ande­ren Städ­ten, schon für Flücht­lin­ge noch ohne Blei­be­recht also nur mit Dul­dung, von der Stadt geneh­migt. Alle suchen und nur weni­ge fin­den eine Woh­nung. Das hat unter­schied­li­che Ursa­chen. Erst mal die Sprach­bar­rie­re, dann der Unwil­le vie­ler Eigen­tü­mer an einen Flücht­ling oder gar an eine Flücht­lings­fa­mi­lie zu ver­mie­ten. Ist so. Ich will das auch gar nicht anpran­gern. Mein Ziel ist es ein­fach mehr Men­schen dazu zu brin­gen es trotz­dem zu tun. Sehr oft pas­sen auch die finan­zel­len Vor­aus­set­zun­gen nicht, sprich die Woh­nung ist ein­fach zu teu­er. Und ver­ein­zelt gibt es sogar Neu­an­kömm­lin­ge, wel­che eine Woh­nung aus den ver­schie­dens­ten Grün­den nicht wol­len. Da denkt man dann schon mal “HOPPLA”, aber es sind eben Men­schen und kei­ne Maschi­nen. Das macht es natür­lich nicht ein­fa­cher. Bei den Pro­ble­men kön­nen oft noch Men­to­ren (“Ein­hei­mi­sche” Hel­fer) behilf­lich sein. Also den Men­schen gut zure­den und über­zeu­gen. Mit allen. Deut­schen und Aus­län­dern

Und dann ging es wei­ter mit Arbeits- und Aus­bil­dungs­plät­zen. Ich dach­te zuerst, dass dies das größ­te Pro­blem sein wür­de. War es aller­dings bis­her über­haupt nicht. Die Leu­te aus unse­rem Umfeld, wel­che sprach­lich schon so weit sind und eine Aus­bil­dung machen möch­ten, sind gut unter­ge­kom­men. KFZ-Mecha­tro­ni­ker, Bäcker, Fach­kraft für Metall­tech­nik und Mon­ta­ge­tech­nik und Dach­de­cker. Dann sind mitt­ler­wei­le vier Leu­te in einem Berufs­vor­be­rei­tungs­jahr bei der IHK Solin­gen mit der Aus­sicht nach die­sem Jahr einen Aus­bil­dungs­platz zu bekom­men. Wir haben sehr vie­le Prak­ti­kan­ten in den unter­schied­lichs­ten Beru­fen wie Alten- und Kran­ken­pfle­ge, Zwei­rad­me­cha­ni­ker, Gar­ten- und Land­schafts­bau­er und sehr vie­le, die für die Stadt in soge­nann­ten 1€-Jobs tätig sind

Ver­ei­ne und Sport sind auch mit am Start. Ob es der Fuß­ball­ver­ein ist oder der Boule­club, Bogen­schie­ßen oder mei­ne Lauf­an­ge­bo­te. Die Ange­bo­te wer­den ange­nom­men und es wird mit­ge­macht

Mitt­ler­wei­le sind Bul­bul und Qus­say schon selbst in der Hil­fe enga­giert und sind gute Vor­bil­der für vie­le ande­re Men­schen

Wir machen regel­mä­ßi­ge pri­va­te Tref­fen, sehen uns zudem ein­mal in der Woche im Café Inter­na­tio­nal und bei ande­ren öffent­li­chen Ver­an­stal­tun­gen

Zu den vie­len Fami­li­en haben wir nur im Café Inter­na­tio­nal Kon­takt, hier küm­mern sich aller­dings vie­le ande­re Men­to­ren. Das hat sich so erge­ben. Aber der Kon­takt ist da und man spricht mit­ein­an­der und grüßt sich in der Stadt

Ich kann also sagen, dass es, was die Leu­te um uns her­um angeht, ganz gut funk­tio­niert. Auch wenn bei vie­len der Leu­te noch kein gesi­cher­ter Flücht­lings­sta­tus erreicht ist und somit ein gro­ßes Maß an Unsi­cher­heit über ihnen schwebt. So ein Asyl­ver­fah­ren dau­ert in vie­len Fäl­len Jah­re

Was uns jedoch auch auf­fällt ist die Tat­sa­che, dass es natür­lich in jeder Grup­pe Men­schen immer wel­che gibt, die es nicht, oder bes­ser gesagt noch nicht ver­stan­den haben, wie wir und unse­re Sys­te­me so funk­tio­nie­ren. Ich will nicht das Wort Regeln benut­zen, denn Regeln wer­den auch von uns “Ein­hei­mi­schen” stän­dig gebro­chen. Nen­nen wir es ein­fach das Zusam­men­le­ben all­ge­mein. Meist ist es Angst oder Unkennt­nis. Auf bei­den Sei­ten. Und damit wären wir wie­der am Anfang. Der Spra­che und dem Kon­takt

Es ist ein Pro­zess, also kein Fin­ger­schnipp

Ja und lei­der haben auch eini­ge weni­ge “Ein­hei­mi­sche” nichts, aber auch gar nichts für Flücht­lin­ge und/oder Aus­län­der übrig. Sie sor­gen in den Sozia­len Netz­wer­ken für eine Stim­mung, wel­che eher ein Hin­der­nis für eine Inte­gra­ti­ons­ar­beit ist. Sie kra­men im Inter­net alle schlech­ten Nach­rich­ten zusam­men und tun dann so, als ob die Welt unter­geht, wenn man den Men­schen hilft. Neu­er­dings bekom­me ich auch regel­mä­ßig “Warn-Emails” von so einem Men­schen. Er oder Sie schreibt natür­lich anonym und will nur Angst erzeu­gen. Aber ich fra­ge mich wovor? Vor geflüch­te­ten Men­schen, die Angst haben? Da wird ver­brei­tet und kom­men­tiert und wer­den sich die Fin­ger wund getippt, um ja nicht in die Ver­le­gen­heit zu gera­ten die eige­ne Mei­nung mal zu reflek­tie­ren und zu erken­nen, dass sich der Ein­satz lohnt. Sol­che Men­schen ver­su­chen mehr poli­ti­sche Macht zu bekom­men und wen­den dazu Popu­lis­mus an, arbei­ten mit Ängs­ten und beschwö­ren Kata­stro­phen her­auf. Eine inter­es­san­te Erklä­rung, wie so etwas funk­tio­niert fin­det man hier

Ängs­te zu schü­ren ist die ein­fachs­te Sache der Welt. Das kann jeder Depp

Wir haben es im ver­gan­gen Jahr anders ver­sucht. Ohne Angst und ohne Abwehr. Dabei haben wir sehr vie­le und über­wie­gend posi­ti­ve Erfah­run­gen gemacht

Viel­leicht besinnt sich der ein oder ande­re noch­mal

Es jedoch nicht zu ver­su­chen und die Hel­fen­den für ihre Tätig­keit auch noch aus­zu­la­chen oder gar zu bedro­hen, statt sich ein­fach raus zu hal­ten, ist eine sehr trau­ri­ge Leis­tung

Dann waren Bul­bul und ich auch schon wie­der in Wer­mels­kir­chen, wir ver­ab­schie­de­ten uns und ich lief noch kur­ze fünf Kilo­me­ter allei­ne nach Hau­se

Gym­nas­tik, Obst, Joghurt und Kör­ner

Anja ist der Mei­nung, dass die Men­schen, wel­che nichts Gutes im Schil­de füh­ren, über kurz oder lang schon ihr Fett weg bekom­men

Alle Men­schen

Aber abschlie­ßend will ich nicht mit etwas Nega­ti­vem enden, denn ich glau­be fest dar­an, dass Inte­gra­ti­on gut funk­tio­niert

“Wir schaf­fen das”

“They just could­n’t belie­ve that someone would do all that run­ning for no par­ti­cu­lar reason.” For­rest Gump